«Der Langstock ist eine Art verlängerter Arm»
Am 15. Oktober ist der «Tag des Weissen Stocks». Der Langstock ist eines der wichtigsten Hilfsmittel für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen. Dank ihm ist es ihnen möglich, sich selbstständig im Alltag und im Strassenverkehr zu bewegen, denn er bedeutet Sichtbarkeit und Sicherheit. Aber wie funktioniert er genau? Christine Hofstetter, Lehrerin für Orientierung und Mobilität, beschreibt, wie die Kinder in der Blindenschule den Umgang mit dem Langstock lernen.In der Blindenschule Zollikofen gehören Orientierung und Mobilität zum Unterrichtsstoff. Halten die Kinder beim Schuleintritt zum ersten Mal einen Langstock in der Hand, Christine Hofstetter?
Christine Hofstetter: Nein, in der Regel besitzen die Kinder bereits zum Schuleintritt einen Langstock. Fachleute empfehlen, dass sich die Kinder so früh wie möglich mit dem Langstock vertraut machen. In der Heilpädagogischen Früherziehung, die sich an Kinder von der Geburt bis zum Schuleintritt richtet, bringen unsere Mitarbeitenden den kleinen Klientinnen und Klienten den Langstock spielerisch näher.
Beim Eintritt in die Basisstufe erhalten die Kinder zudem Orientierungs- und Mobilitätstraining. Unabhängig davon, ob sie in der Blindenschule sind oder im integrativen Unterricht in der Regelschule.
Wie sieht der Orientierungs- und Mobilitätsunterricht bei einem Kind aus, das noch nicht viel Erfahrung im Umgang mit dem Langstock hat?
Christine Hofstetter: Je jünger die Kinder sind, desto weniger Wert legen wir auf die korrekte Technik. In der ersten Zeit werden spielerische Übungen gemacht. Zum Beispiel, mit dem Langstock die verschiedenen Bodenuntergründe zu erfassen. Oder zu spüren und zu hören, wenn sich die Kinder in verschiedenen Räumen und Umgebungen aufhalten. Das Ziel ist es, dass der Langstock immer mehr als eine Art «verlängerter Arm» betrachtet wird. Als ein Hilfsmittel, welches die Kinder mit der Zeit als selbstverständlich betrachten.
Erst mit der Zeit befassen wir uns mit den verschiedenen Arten von Technik. Zum Beispiel dem Pendeln sowie dem Lesen von Leitlinien, Strassen zu überqueren oder dem Lernen von bestimmten Wegen und Routen. Grundsätzlich bringen wir den Schülerinnen und Schülern bei, sich in fast jeder Lebenslage draussen zurecht zu finden. Das Ziel ist die grösstmögliche Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit.
Ein Langstock ist ständig in Gebrauch. Beim Pendeln auf dem Beton und auch anderen Bodenbeschaffenheiten muss er viel aushalten. Wie oft muss der Langstock ersetzt werden?
Christine Hofstetter: Grundsätzlich sind Langstöcke Verschleissmaterial und müssen jährlich ersetzt werden. Bei Kindern ist es zudem so, dass die Langstöcke entsprechend ihrer Grösse angepasst werden müssen. Die Kosten übernimmt die Invalidenversicherung (IV), sofern ein Antrag gestellt wird.
In einer Schule gibt es Hausaufgaben. Welche Aufgaben stehen für die Schülerinnen und Schüler im Orientierungs- und Mobilitätstraining an?
Christine Hofstetter: Hausaufgaben im klassischen Sinn nicht. Sie können sich aber Gedanken darüber machen, welche Routen sie lernen möchten. Zum Beispiel der Weg von der Blindenschule nach Hause. Oder, was bei den Jugendlichen sehr beliebt ist: der Weg ins Coop Pronto beim Bahnhof Zollikofen.
Sobald die Schülerinnen und Schüler einen Weg verinnerlicht haben, legen sie eine Art Prüfung ab. So zeigen sie, dass sie selbstständig den Weg mit all seinen Herausforderungen meistern.
So verhalten Sie sich im Strassenverkehr, wenn eine blinde oder sehbeeinträchtigte Person die Strasse überqueren möchte
Halten Sie relativ dicht vor der Person mit dem Weissen Stock an, wie bei anderen querenden Personen auch. Stellen Sie den Motor nicht ab, damit Sie akustisch stets zu hören sind. Bitte nicht hupen, denn das wäre für die blinde Person ein Warnsignal. Zu winken oder das Betätigen der Lichthupe nützen hier leider auch nichts - etwas Geduld dafür sehr. Auch Velo- und E-Trottifahrende sind verpflichtet, anzuhalten. Ja nicht noch schnell vor oder hinter der Person mit dem Weissen Stock durchflitzen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit (Quelle: Schweizerischer Blindenbund).
Der Orientierungs- und Mobilitätsunterricht ist sehr vielfältig. Auf dem Lernplan steht mehr als «nur» Routen üben ...
Christine Hofstetter: Tatsächlich ist der Unterricht sehr vielfältig. Unser Team organisiert jährlich wiederkehrende sowie ausserordentliche Kurse. Wir arbeiten zum Beispiel mit der RBS zusammen. Wir dürfen jeweils Züge, die uns das RBS-Team zur Verfügung stellt, inspizieren – und das bis aufs kleinste Detail: Notbremse anfassen, jegliche Knöpfe drücken und sogar in die Führerkabine dürfen die Schülerinnen und Schüler steigen. Das ist für alle ein grosses Erlebnis.
Im Verkehrskundeunterricht üben wir auf einem Gelände das Fahrradfahren: das Fahren im Verkehr, beim Abbiegen Handzeichen geben etc. Selbstverständlich mit Kindern und Jugendliche mit genügend grossem Sehvermögen. Oder wir dürfen inmitten von Zollikofen auf den Kreisel steigen und dem Verkehr lauschen. Auch das ist ein sehr spannendes Erlebnis für die Kinder. In diesem Unterricht arbeiten wir eng mit der Polizei zusammen.
Nicht zuletzt bieten wir jährlich einen Klicksonar-Kurs mit dem Mobilitätstrainer Juan Ruiz an. Diese Methode ist in Kombination mit dem Langstock höchst effizient. Denn sie lehrt den Schulkindern, wie sie mit Hilfe von Schnalzlauten Hindernisse rechtzeitig hören und sich ein differenzierteres Bild von der Umgebung machen können.
Zur Person
Ein Fossil sei sie, sagte Christine Hofstetter einst im Podcast «Schule im digitalen Wandel». Und lacht dabei herzlich. Tatsächlich ist sie schon seit 1990 in der Blindenschule Zollikofen tätig. Zuerst als Lehrperson und heute als Lehrerin für Orientierung- und Mobilität. Nebenbei gibt sie in unserem Schweizerischen Blindenmuseum Führungen.