Lucius hat einen Traum
InstrumentalunterrichtLucius Arz spielt leidenschaftlich gern Klavier. Mehrere Stunden täglich. Und er spielt gut. Das hat er nicht nur Fleiss und Ehrgeiz zu verdanken. «Er verfügt über ein ausserordentliches Talent und hat das absolute Musikgehör», sagt sein Musiklehrer und Mentor Alexander Wyssmann.
Lucius möchte seine Begabung zum Beruf machen. «Wenn ich 37 Jahre alt bin, möchte ich an einer Musikschule unterrichten.» Das ist sein Traum.
Zum Zeitpunkt dieser Geschichte ist der sehbebeeinträchtigte Schüler, der im Autismus-Spektrum lebt, 18 Jahre alt. Ein Alter, in dem die Kinder den Bildungsweg an der Blindenschule Zollikofen abschliessen und als junge Erwachsene ins Leben hinausgehen. Nun beginnt Lucius‘ langer Weg.
Die ersten Klänge
«Ich habe grosses Vertrauen, dass Lucius seinen Berufswunsch verfolgen kann», ist Alexander Wyssmann überzeugt, «und würde ihn gern begleiten.» Mit einfachen Melodien lehrte er Lucius damals, vor sechs Jahren, Klavier zu spielen. «Lucius ahmte die Klangabfolgen einfach nach.» Dies geschah ohne viel Worte. Heute spielt Lucius Stücke von den Jazzgrössen Miles Davis, Thelonious Monk, Keith Jarrett. Wenn Lucius‘ sprechende Uhr den Unterrichtsbeginn signalisiert, setzen sich Schüler und Lehrer an ihre Pianos und spielen. Wortfetzen auf Französisch fliegen hin und her, manchmal stösst Lucius einen Schrei aus. «Damit drückt er sein Unbehagen darüber aus, dass ich falsch gespielt habe», sagt Wyssmann schmunzelnd.
Alexander Wyssmann, Lehrer für Musik, Informatik und Brailleschrift an der Blindenschule Zollikofen, erblindete selber im jungen Erwachsenenalter. Mit «twilight-trio» tritt Wyssmann mit seine eigener Formation auf und arbeitet szenenübergreifend in den Bereichen Tanz, Theater und bildende Kunst.
Dank des Unterrichts machte der eher zurückhaltende Junge grosse Fortschritte – nicht nur beim Klavierspiel. «Die Musik gibt Lucius Sicherheit, wenn er mit Neuem konfrontiert ist», erklärt Wyssmann. «Lucius hat seine Steifheit verloren. Er ist selbstständiger geworden und hat an Selbstvertrauen gewonnen». So ist Lucius heute in der Lage, ihm bekannte Wegstrecken – auch längere – ohne Begleitung zu gehen. Eine Situation, die Menschen aus dem Autismus-Spektrum viel abverlangt.
Lucius hat seinen Traum aufgeschrieben. Schreiben entspricht ihm besser als sprechen. Er sagt: «Ich spiele euch Akkorde vor und ihr müsst herausfinden, welche es sind.» In seinem Traum unterrichtet Lucius zwei Schüler. In seinem Traum bewohnt er eine 3-Zimmer-Wohnung im Berner Ostring. Damit seine Eltern und Geschwister übernachten können, wenn sie zu Besuch kommen. In seinem Traum lebt Lucius selbstständig mit Beruf und Arbeitsstelle. In seinem Traum ist Lucius Jazzmusiker; wie sein Mentor.
Ein erster Schritt dahin war bereits erfolgreich: Lucius bewarb sich für den Talentförderkurs der Jazzschule Bern. Und bewies mit Bravour bei der Aufnahme sein praktisches und theoretisches Wissen. Seit einigen Monaten besucht er nun den Kurs. Das Förderprogramm dauert ein Jahr und dient als Vorbereitung für die Jazzschule.
Der Zauber der Instrumente
Alexander Wyssmann kann auf unzählige solcher «Erfolgsgeschichten» seiner Schülerinnen und Schüler zurückblicken. Kinder, die dank der Instrumente ihre Hände und Finger «in den Griff bekamen» und das 10-Finger-System auf der Tastatur lernten. Kinder, die es dank eines regelmässigen Gongs schafften, sich beim Lernen zu konzentrieren.
Wie wir lernen, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir den Raum um uns herum wahrnehmen, ja, sogar wie wir die Zeit erfassen, bedient sich unserer Fähigkeit des Sehens. Mit Klang können abstrakte Lerninhalte «veranschaulicht» werden. Die Musik ermöglicht, Begriffe und Wahrnehmungen mit allen Sinnen zu erleben.
Deshalb setzen wir in der Blindenschule Zollikofen den Musikunterricht zur Unterstützung des Lernens ein.
Der Instrumentalunterricht ist dank Spenden möglich
Seit jeher wurde Musik einerseits als Kunstform und andererseits zur Heilung von Menschen eingesetzt. Der Musik- und Instrumentalunterricht an der Blindenschule Zollikofen unterstützt auch das Lernen.
Im lustvollen Spielen und Erleben von Klängen, Rhythmen und Melodien können körperliche Befindlichkeiten, Gefühle und belastende Themen ohne Worte ausgedrückt werden und sich verwandeln. Es eröffnet sich ein schöpferischer Spielraum, in welchem Wahrnehmung und Selbsterleben vielfältig angeregt und neue Verhaltensweisen ausprobiert und geübt werden können. Die Kinder und Jugendlichen sollen Anerkennung und Wertschätzung erfahren, eigene Ressourcen entdecken und Zugang zu ihrem schöpferischen Potenzial finden
Und manchmal werden Talente entdeckt.
2020 besuchte die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga aus Anlass des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung die Blindenschule in Zollikofen. Und traf dort auf das Duo Lucius Arz und Alexander Wyssmann. Simonetta Sommaruga, selber ausgebildete Pianistin, genoss sichtlich das Konzert.