Eine Sprache, die Barrieren überwindet
InstrumentalunterrichtSo hat man den Mani Matter noch nie gehört. Im breitesten Berndeutsch, ja, so wie es sein muss. Doch ...
Ds nächschte Lied isch nach ere Gschicht wo dr ganz sicher scho kennet
Es isch d Gschicht vom Noah,
Vom Noah us dr Bibel u vo sine Mitmönsche
.. da schwingt etwas mit. Das gewisse Etwas, das einen besonders aufmerksam hinhören lässt. Und fasziniert. Samuel singt den «Noah» in einer neuen Interpretation, seiner Stimmfarbe.
Samuel ist albanischer Muttersprache.
Eine faszinierende Interpretation. Wenn man Samuel zuhört, spürt man das, was man den Schauer nennt, der einem über den Rücken läuft. Der 16-Jährige, der im Gespräch immer wieder stockt, den Gedanken, den er eben noch hatte, versucht einzufangen, sich im Kreise dreht und wieder am Anfang landet, dieser Teenager verzaubert mit seiner Stimme und zählt ganz nebenbei die 14 Tiere in Noahs Lied ohne ein Zögern auf.
Und si hei ne gseh its Schiff näh Löie und Giraffe
Nachtigalle, Zebra, Elefante, Söi und Affe
Schlange, Chüe, Rhinozeros, Gazälle, Dromedar
Känguru und Kolibri vo allem gäng es Paar
Er meistert Zungenbrecher wie …
Und wo d'Tier si drin gsi isch är sälber de mit sine
Söhn und sire Frou und sine Schwigertöchter ine
... und singt die fünf Strophen ohne Unterbrechung durch. Mehrmals. Stets mit der gleichen Aufmerksamkeit und Konzentration. Die Anregungen, die Musiklehrer Jean-Luc Gassmann hie und da einwirft:
«Du darfst auch Luft holen.»
«Beginn die zweite Strophe mit einer anderen Betonung. »
«Warte, bis ich das Instrumentalvorspiel beendet habe und beginne nicht zu früh.»
«Versuch, zu erzählen. Nicht einfach nur zu singen.»
Samuel setzt sie flugs um.
Dass wir Ihnen kein Märchen über Samuels ergreifende Stimme erzählen, können Sie gleich hier im Video hören und sehen. Es ist die Interpretation des albanischen Liedes «Refuzoj», einem Lied über Freundschaft, Liebe und Einsamkeit des albanischen Künstlers Alban Skënderaj. Aufgenommen anlässlich des Abschlussfestes im Sommer 2024.
Musik ist uneingeschränkt
Musik ist für Menschen, die nicht oder eingeschränkt sehen, uneingeschränkt zugänglich. Musik hören, Musik machen, sei es mit einem Instrument oder der Stimme, ist weitgehend ohne Barrieren möglich. Musik kann als universale Sprache betrachtet werden und gilt als eines der besten und vor allem weit verbreiteten Kommunikationsmittel.
«Die Kinder hier sind topfit in Sachen Musik», sagt denn auch Jean-Luc Gassmann, der ihn auf dem Klavier begleitet. «Bei der Musik geht es ums Hören, und da sind sie daheim, das kennen sie.» Der Lehrer verfügt über einen immensen Erfahrungsschatz. Er hat zahlreiche Kinder begleitet, unterrichtet er doch seit dem Jahr 1990 an der Blindenschule Zollikofen. «Diese Art der Kommunikation eröffnet einen Reigen von Möglichkeiten, das Lernen der Kinder zu unterstützen; ohne grosse Worte.»
Musik macht Zeit begreifbar
«Rhythmus, Takt, Tempo – all diese Elemente eines Musikstücks haben mit Zeit zu tun», zählt Jean-Luc Gassmann auf. «Die Kinder müssen auf den Anfang, die Pause und das Ende achten», erklärt der Pädogoge, um ein Beispiel des Lernens zu illustrieren.
Wenn das Metronom den Taktschlag vorgibt. Wenn der Gesang das Spiel des Klaviers abwarten muss. Wenn man beim letzten Ton gemeinsam aufhört. Dann erfahren die Kinder etwas über Zeit, über Länge, über aufeinander Achten, über Sorgfalt. Es ist ein Dialog, wie Frage und Antwort, hier der Ton, dort die Stimme und schliesslich das gemeinsame Musizieren. Die Kinder lernen, die Zeit zu strukturieren.
Musik inspiriert zu Bewegung
Werfen Sie doch kurz einen Blick auf das Bild oben. Samuel geht sparsam mit Betonungen um, wenn er den «Noah» interpretiert. Doch in einigen Momente nimmt er seinen Körper hinzu und verleiht dem Gesang Nachdruck. Musik inspiriert. Sie erweitert das Bewegungs- und Ausdrucksrepertoire. Und fördert die Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Orientierung im Raum.
Ein Klavierspieler «holt» die Töne auf den Tasten rechts und links, eine Flötistin bedeckt die Löcher oben und unten, die Trommlerin zieht die Hände hoch, der Schlagzeuger schlägt in alle Richtungen. Im Chor ertönen die Stimmen im Stereo. Im Tanz bewegt sich der Körper durch den Raum.
Und Sie kennen es auch: Wer fängt nicht an, mit dem Fuss zu wippen und sich im Rhythmus zu wiegen, wenn mitreissende Musik erklingt. Ob nun bei Strassenmusik, in einem Konzert oder in der Disco. Musik hat eine Anziehungskraft, der man sich kaum entziehen kann. Wer hat nicht schon die Faszination erlebt, wenn sich im Zusammenspiel die Musikerinnen und Musiker zu einzigartigen Soli anspornen.
Musik unterstützt das Lernen
So viele Kinder, so unterschiedliche Bedürfnisse, so vielfältig Talent und Können. Wie «findet» Jean-Luc Gassmann das richtige Instrument für die Schülerin, den Schüler? «Kommt ein Kind neu in meinen Unterricht, geht es darum, herauszufinden, was sein Thema ist.» Der Musiklehrer stellt die Diagnose seiner Schülerinnen und Schüler nicht in den Vordergrund. Das muss er auch nicht. Er beobachtet. Und gibt präzise Anweisungen. Streng kann man das nennen; auch liebevoll.
Samuels Unterrichtsstunde beginnt denn auch damit, dass Gassmann ihn auffordert, einen der an die Wand gelehnten Klappstühle zu holen. Der Junge zögert, scheint sich nicht entscheiden zu können, zu welcher Wand er nun laufen soll. Bei der Tür oder am Fenster. «Dort neben der Zimmertür», hilft der Pädagoge. Als Samuel schliesslich den Stuhl neben dem Klavier platziert, sieht er mich fragend an: «Möchten Sie auch einen?»
Samuel hat Schwierigkeiten, sich visuell im Raum zu orientieren. Ein Bestandteil des Instrumentalunterrichts ist deshalb, Aufgaben in den Unterricht einzubauen: Das Mikrofon holen, den Stuhl neben dem Klavier platzieren, den Verstärker einschalten, das Kabel entwirren, das Kabel anschliessen. Sich mit dem Mikrofon zum Publikum zu richten, das in dem Moment aus einer Zuhörerin besteht. Die Kinder lernen so, ganz beiläufig alltägliche Aufgaben selbstständig und unabhängig zu bewältigen.
Musik gibt Wertschätzung
Samuels Einschränkung fällt auf den ersten Blick kaum auf. Geht es um konkrete Aufgaben oder ein Gespräch jedoch, braucht der Junge Zeit. Auf die Frage, was er ausser Singen in seiner Freizeit auch gern macht, fällt es dem Teenager schwer, seine Gedanken zu einer Antwort zu formulieren. Seine Lehrerin attestiert ihm ein grosses Wissen, vor allem in naturwissenschaftlichen Dingen. Und auch Sprachen sind seine Stärke. «Samuel hat viele Stärken und Ressourcen, doch es fällt ihm schwer, diese (an-) zuerkennen und seinen Blick von den Einschränkungen zu lösen», sagt Martina Bachmann.
«Jedes Mal, wenn er vom Instrumentalunterricht zurückkommt, ist er aufgestellt», stellt Bachmann fest. Solche Erfolgserlebnisse und die Wertschätzung des Publikums sind für einen Heranwachsenden immens wichtig. Gerade, wenn er auf der Suche nach seinem Potenzial ist.
«Musik ist nicht das Ziel», hatte Jean-Luc Gassmann zu Beginn unseres Gesprächs gesagt. Doch ist es gerade die Musik, mit der Samuel erlebt, dass er etwas gut kann. Dass er Menschen erfreuen und berühren kann. So wie beim Sommer-Schulfest, als er vor all den Familien, die mit ihren Kindern den Abschluss des Schuljahres feierten, ein Solo sang. Oder beim Konzert, das er ganz allein vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern bestritt.
Der Instrumentalunterricht ist dank Spenden möglich
Seit jeher wurde Musik einerseits als Kunstform und andererseits zur Heilung von Menschen eingesetzt. Der Musik- und Instrumentalunterricht an der Blindenschule Zollikofen unterstützt auch das Lernen.
Im lustvollen Spielen und Erleben von Klängen, Rhythmen und Melodien können körperliche Befindlichkeiten, Gefühle und belastende Themen ohne Worte ausgedrückt werden und sich verwandeln. Es eröffnet sich ein schöpferischer Spielraum, in welchem Wahrnehmung und Selbsterleben vielfältig angeregt und neue Verhaltensweisen ausprobiert und geübt werden können. Die Kinder und Jugendlichen sollen Anerkennung und Wertschätzung erfahren, eigene Ressourcen entdecken und Zugang zu ihrem schöpferischen Potenzial finden
Und manchmal werden Talente entdeckt.