Wenn die Ohren zu Augen werden
Orientierung und Mobilität mit SchnalzenEs ist eine Herausforderung, ein Gespräch mit Juan Ruiz zu führen. Ein Mensch ständig auf Achse, immer zwei Schrittlängen voraus.
Klick.
Klick
Klick.
Dazu das leise Surren des Langstocks.
Und dann das herzhafte Lachen, wenn er in das Absperrband läuft, das den zart keimenden Rasen rund um die Gebäude der Blindenschule Zollikofen schützen soll.
«Ich lief oft in Stangen hinein oder wurde von einer Schwingtür getroffen», erzählt dann der Mexikaner, der in den USA aufwuchs und heute weltweit blinden und sehbeeinträchtigten Kindern und Erwachsenen Techniken vermittelt, genauso aktiv zu leben wie er. Oder trifft es nicht eher: Neugierig? Voller Entdeckerdrang?
Im Ringerteam an der Schule.
Mit seinem Mentor beim Mountainbiken.
Sommers wie winters in den Bergen.
Rumschrauben an Oldtimern.
Überhaupt zu leben.
«Zu viele Eltern sind überfürsorglich und räumen ihren Kindern sämtliche Hürden und Probleme aus der Welt», sagt Juan Ruiz, dessen Eltern keine Zeit hatten, die acht Geschwister ständig zu beaufsichtigen. So lernte er früh, seine Umwelt genau wahrzunehmen und ermuntert Eltern heute, ihren blinden Kindern schon früh die Gelegenheit zum Üben und Probieren zu geben. Da seien auch ein paar kleine Missgeschicke und harmlose Unfälle für den Lernerfolg durchaus erwünscht. Blinde Menschen bräuchten Probleme und Hürden, um Fähigkeiten zu erlernen. « Wirst du immer geführt, bleiben die Regionen im Gehirn, die für die Orientierung zuständig sind, inaktiv», sagt Ruiz, der heute kaum noch unvermittelt von einer Schwingtür getroffen wird.
Das Echo erzeugt ein Bild im Kopf
Juan Ruiz ist Mobilitätstrainer. In der Fachsprache heisst es: Orientierung und Mobilität. Perceptual Mobility nennt Juan Ruiz seine Art des Mobilitätstrainings, übersetzt: wahrnehmungsgestützte Bewegung. Dabei nutzt er ein Naturphänomen, das vor allem nachtaktive Tiere anwenden, um sich zu orientieren. Sie senden Schallwellen, die, an einem Objekt abprallend, ein Echo zurückwerfen.
Diese Fähigkeit schlummert auch in uns. Nur sendet Juan Ruiz kurze, scharfe Schnalzlaute, die er mit der Zunge erzeugt. Das Echo erzeugt eine Art dreidimensionales Bild der Umgebung und entsteht bei blinden Menschen nachweisbar im visuellen Cortex des Gehirns. Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen können mit der Klicksonar-Methode also mit ihren Ohren sehen.
«Sieh über deine Ohren», sagt deshalb Juan Ruiz zu seinen Schülerinnen und Schülern hier an der Blindenschule immer und immer wieder. Und: Üben üben üben. Er ist ein begnadeter Pädagoge. Auch wer absolut keinen Bock auf Unterricht hat, den motiviert er mit Witz und viel Geduld, die Technik zu üben und anzuwenden. Denn allein den Schnalzlaut zu erzeugen, das gelingt nicht auf Anhieb. Haben Sie es schon mal versucht?
Ergänzt mit einem perfektionierten Umgang mit dem Langstock, der Bodenunebenheiten ertastet, kleine Stufen oder Löcher im Weg, gibt es für blinden Menschen kaum Grenzen der Eigenständigkeit. Juan Ruiz ist das Beispiel dafür. Unterrichtet er nicht gerade, lebt er in der wenigen Freizeit seine Hobbies – oder reist durch die Kontinente.
Ein unschätzbares Mass an Freiheit
Juan Ruiz ist immer am Entdecken. Das Entdecken entdecken, präzisiert er. Wie ist die Welt gestaltet, wie sind Gebäude aufgebaut? «Geht man auf Entdeckungstour, und das mache ich leidenschaftlich gern, vor allem in fremden Städten, entwickelt man laufend neue Fähigkeiten, etwas zu verstehen und zu begreifen. Und das», fügt Ruiz an, «gibt Dir ein unschätzbares Mass an Freiheit. Du kannst dich bewegen, ohne ständig auf andere Menschen angewiesen zu sein.»
Allein am liebsten. No Limits! Ausser einem dünnen Absperrband.